Unter “Menschentypen” werden die klassischen “Charaktertypen” nach Alexander Lowen - “Schizoider, Oraler, Psychopath, Masochist, Rigider, Phalliker, Hysteriker” - ausführlich beschrieben. Die Darstellungen sind stark von klinischen Sichtweisen geprägt und betonen die negativen Ausprägungen menschlichen Soseins.
Statt jemanden durch Zuordnung in eine typologische Schablone zu pressen, können diese typologischen Schwerpunkte jedoch besser als mit bestimmten Entwicklungsphasen (die jeder durchläuft) zusammenhängende, spezifische Eigenschaften - Persönlichkeitsdimensionen - betrachtet werden. Die persönlichen Ausprägungen dieser Eigenschaften spiegeln die jeweils erzielten individuellen Lösungswege der Aufgaben und Probleme wider, die sich den meisten Menschen in verschiedenen Entwicklungsphasen der Kindheit und Jugend präsentieren.
Die Ausprägungen dieser Eigenschaften können in einem Persönlichkeitsprofil (“Charakterprofil”) dargestellt werden.
Alexander Lowen’s Fassung bioenergetischer Strukturtypen - „schizoid“, „oral“, „psychopathisch“, „masochistisch“, „rigid“ („phallisch“, „hysterisch“) - haben eine Schlüsselfunktion für das Verständnis der Persönlichkeitsentwicklung und sind Matrix therapeutischen Verstehens und Intervenierens bioenergetisch ausgerichteter Therapeuten. Sie ermöglichen eine energetische Sichtweise seelischen Geschehens im Körper mit Energieflüssen oder Blockaden in bestimmten „Segmenten“ des Körpers und gestatten es, Verbindungen zu traumasensitiven Phasen der Kindheit zu ziehen, den Körper als Schauplatz seelischen Geschehens zu betrachten und zu behandeln, sie beschreiben typbedingte erhöhte Wahrscheinlichkeiten für problematische Verhaltensweisen auf der Ebene der Umweltbeziehung. Sie erfassen Zusammenhänge im Kind-Eltern-Bezug, erlauben Rückschlüsse auf die elterlichen Persönlichkeiten und auf die Beziehung der Eltern zueinander als auch zum Kind.
Es erstaunt, daß im bioenergetischen Lager bisher wenig unternommen wurde, dieses grundlegende typologische Modell auf Querverbindungen zur Persönlichkeitspsychologie und Übereinstimmungen mit deren Persönlichkeitsmodellen zu untersuchen und sich von dort eventuell Bestätigung oder Anregung zur Auseinandersetzung zu holen. Beide Disziplinen scheinen bisher nur wenig Notiz voneinander genommen zu haben. Bioenergetik wird in der Persönlichkeitsforschung wie überhaupt in der akademischen Psychologie nur begrenzt akzeptiert und ernst genommen.
Persönlichkeitspsychologie war schon immer darauf aus, diejenigen „grundlegenden Dimensionen“ der Persönlichkeit herauszufinden und zu messen, die ausreichen sollten, die individuellen Unterschiede von Personen möglichst vollständig zu erklären. Da war zum einen das Konzept zweier hauptsächlicher Persönlichkeitsdimensionen, das sich in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts entwickelte. Es begann mit zwei von Cyril Burt (1927) gefundenen hauptsächlichen Temperament-Faktoren, die man heute als Neurotizismus und Extraversion bezeichnen würde. Diese Linie wurde vor allem von dem englischen Forscher Eysenck (1960) konsequent weiterentwickelt, der diesen beiden nach 1970 noch die Dimension Psychotizismus hinzufügte. Eysenck behauptete, daß lediglich diesen drei Faktoren aufgrund ihrer Fundierung in Mechanismen des Verhaltenslernens und in Hirnfunktionen genügend Zuverlässigkeit und allgemeine Bedeutung zugesprochen werden könnte.
Zum anderen begann mit der Entwicklung multivariater statistischer Verfahren eine weitere Entdeckungsreise ins Reich der Persönlichkeit, insbesondere, nachdem zunehmend elektronische Rechner den außergewöhnlich hohen Rechenaufwand übernehmen konnten. Hier war es vor allem Cattell, der den lexikalischen Ansatz begründete. Dieser war eine Weiterentwicklung der Sedimentationshypothese von Ludwig Klages, die davon ausgeht, daß alle Aspekte persönlicher Unterschiede, die irgendwie bedeutsam, interessant oder nützlich sind oder waren, ihren Eingang in die Sprache gefunden haben. Mit der Wichtigkeit einer solchen individuellen Differenz zwischen Personen stieg auch die Wahrscheinlichkeit dafür, daß sie ein gesondertes Wort hervorbrachte. Folglich sollte die Sammlung der Begriffe eines Sprachraumes, mit denen individuelle Unterschiede beschrieben werden können, den Bereich der relevanten individuellen Differenzen abdecken. Von dieser Annahme aus entwickelte sich der psycho-lexikalische Ansatz.
Die mathematischen Möglichkeiten, Zusammenhänge und Gemeinsamkeiten zwischen den Ausprägungen verschiedener Merkmale - z.B. Persönlichkeitszüge - ihrer Richtung und Stärke nach relativ genau zu bestimmen, entwickelten sich in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts rasch weiter. Die Faktorenanalyse ermöglichte zudem bei mehr als zwei und einer noch größeren Anzahl von Merkmalen („Variablen“), zwischen denen ein schwer entwirrbares Wechselspiel von stärkeren und schwächeren Zusammenhängen - „Korrelationen“ - besteht, mithilfe mathematischer Prozeduren die Unterschiede einer Menge von miteinander korrelierenden Variablen auf das Zusammenwirken einiger weniger - möglichst unabhängiger - Faktoren zu reduzieren.
Allport und Odbert erstellten 1936 eine Liste von 18.000 Adjektiven aus Webster’s New International Dictionary. Aus dieser Liste wurden diejenigen Adjektive gefiltert, die sich zur Beschreibung stabiler und konsistenter individueller Persönlichkeitszüge eigneten. Sie kamen auf 4.504 Begriffe. Cattell reduzierte diese Liste nun mithilfe statistischer Verfahren auf 171 Gegensatzpaare. Mithilfe aufwendiger korrelationsstatistischer und faktorenanalytischer Verfahren kam er auf sechzehn seiner Meinung nach unabhängige grundlegende Persönlichkeitsfaktoren. Der von ihm entwickelte Fragebogen, der berühmt gewordene „16PF“ (16 personality factors), diente dazu, diese messtechnisch zu erfassen. Wenig später entdeckte man, daß auch diese 16 Faktoren noch miteinander korrelierten. Das bedeutete, daß es möglich sein mußte, ihre Anzahl noch weiter zu reduzieren.
Die amerikanischen Forscher Paul Costa und Robert McCrae konnten in den achtziger Jahren als erste überzeugend nachweisen, daß es - unabhängig von den untersuchten Probandenstichproben, von den Beobachtern, von den Fragebogeninstrumenten, von den Methoden der Faktorenanalyse und vom Kulturraum - fünf robuste Faktoren (plus Intelligenz) als stabile Grunddimensionen der Persönlichkeit gibt, mit denen erfaßbare Differenzen zwischen Individuen hinreichend erklärt werden können. Diese fünf Faktoren können dabei sowohl in Adjektivlisten identifiziert werden, als auch in multidimensional aufgebauten Persönlichkeitsfragebögen. Sie fanden sich gleichermaßen in Selbst- wie in Fremdbeschreibungen von Personen durch Bekannte und Familienangehörige. Diskussionen werden derzeit noch geführt um die endgültige Namengebung und exakte begriffliche Identifikation, da je nach Perspektive unterschiedliche Etikettierungen möglich sind.
Eine Reihe von Studien - z. B. Livesley (1996), Torgersen (1996), Andresen (1996) - beschäftigt sich bereits mit der Nutzung des Fünf-Faktoren-Modells für die Erforschung klinischer Störungsbilder. Es ist auch eine verstärkte Hinwendung zu Fragen der Vererbung von Persönlichkeitsstruktur und Persönlichkeitsstörungen - z.B. Jang (1996) - zu beobachten. In einer gemeinsamen Studie der Universität Bielefeld, konnte Angleitner (1997) an Selbst- und Fremdbeschreibung von über 2.200 Zwillingen nachweisen, was bereits andere internationale Studien über adoptierte Kinder und getrennt aufwachsende Zwillinge gezeigt hatten: Daß genetische Unterschiede für die Persönlichkeitsentwicklung - und zwar bezogen auf alle fünf Faktoren - von zentraler Bedeutung sind und daß Umwelt und Erziehungsverhalten der Eltern sich als unbedeutend für die Ausgestaltung von Persönlichkeitsmerkmalen erweisen. Sollte sich dies in Zukunft bestätigen, dürfte das eine mittlere Revolution in der Arbeit vieler Therapeuten begründen, da der routinemäßige Bezug zu kindheitlichen Erfahrungen eine völlig andere Gewichtung erfahren würde.
Auch in anderen Bereichen wie der Erforschung politischer Einstellungen - z.B. van Hiel und Mervielde (1996) -, in der Streßforschung - z. B. Klis und Kossewska (1996), Slane und Kim (1996), Amelang (1996) -, im Schul- und Erziehungsbereich sowie im Management findet das fünf-Faktoren-Modell zunehmende Anwendung.
Für bioenergetisch orientierte Therapeuten stellt sich die Frage, ob für die bioenergetische Typologie irgendwelche Bezüge zu diesen persönlichkeitspsychologischen Grunddimensionen hergestellt werden können. Denn wenn dies nicht der Fall ist, würde sich hinsichtlich der Begründbarkeit der Charaktertypen ein gewisser Erklärungsnotstand ergeben jenseits eines Konstruktes, auf das sich eine Gruppe von Therapeuten intern geeinigt hat und das keinerlei Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit oder klinische Relevanz erhebt.
Die Entwicklung der Konstrukte psychodynamischer Charaktere im klinischen Bereich und die Erforschung der grundlegenden Persönlichkeitsdimensionen in der Persönlichkeitspsychologie erfolgte also bis heute auf relativ getrennten Wegen. Während es ein Anliegen der persönlichkeitspsychologischen Forschung ist, grundlegende und allgemein verbindliche Persönlichkeitsdimensionen zu finden und zu beschreiben, ist die Erfassung von Charakterstrukturen in der klinischen Psychologie traditionell seit FREUD phänomenologisch ausgerichtet und resultiert vor allem aus der klinischen Empirie. Schwerpunktmäßig überwiegen daher in der persönlichkeitstheoretischen Forschung multifaktoriell ausgerichtete statistische Verfahren, die auf an mehr oder minder großen Stichproben gewonnenen Daten angewendet werden, wohingegen im klinischen Bereich in der Regel begrenzte Stichproben, Einzelfallanalysen und phänomenologische Herangehensweise das Feld beherrschen.
Seit einigen Jahren ist z.B. bei der Klassifikation der Persönlichkeitsstörungen verstärkt ein Bemühen zu beobachten, der kategorial erfolgenden Diagnostik eine dimensional begründete an die Seite zu stellen oder womöglich die erste durch die zweite ganz oder teilweise zu ersetzen. Anstelle der Frage, ob eine Persönlichkeitsstörung vorliegt oder nicht, träte die Frage nach der Stärke der Ausprägung einer Persönlichkeitsdimension – was dann mit Fragebögen erfaßt werden könnte.
Costa und andere (1994) demonstrieren dies mit dem weiter unten ausführlicher dargestellten Fünf-Faktoren Modell der Persönlichkeit, indem sie klassische Kategorien von Persönlichkeitsstörungen nach DSM-III-R aus der Perspektive fünf grundlegender Persönlichkeitsdimensionen und deren je 6 Facetten (insgesamt also 30 Facetten) zu beschreiben versuchen.
Als Vorteile des dimensionalen Ansatzes sind hervorzuheben, daß er zur Auflösung einer Vielzahl klassifikatorischer Dilemmas beiträgt (1), daß er mehr Information zur Verfügung stellt (2) und daß er flexibler ist (3).
Ich wende nun den dimensionalen Ansatz auf das Konzept psychodynamisch fundierter Grundtypen, wie sie in den von A. Lowen formulierten Charakterstrukturen (Lowen, 1988) vorliegen, an. Auf diese Weise möchte ich eine Brücke zwischen den Typen traumatischer Strukturen der traditionellen bioenergetischen Analyse und dem dimensionalen Ansatz der Persönlichkeitspsychologie schlagen. Die von Lowen formulierten Typen – schizoid, oral, psychopathisch, masochistisch, rigid, phallisch, hysterisch - stammen aus der psychodynamischen Tradition S. Freuds via W. Reich, jeder dieser Begriffe steht im entwicklungspsychologischen Kontext einer spezifischen Reifungsphase der Kindheit.
Folgende Anpassungen und Modifikationen des Modells der bioenergetischen Charaktertypen von Lowen in Berücksichtigung des heutigen persönlichkeitspsychologischen Forschungsstandes werden vorgeschlagen:
1. Charakterdimensionen statt Charaktertypen:Anstelle der kategorialen Einstufung (Beispiel: „jemand ist entweder oral geprägt oder nicht“) schlage ich eine linear-dimensionale Klassifizierung vor, derzufolge jeder Mensch auf einer (hier zum Beispiel oralen) Skala gemäß der Stärke seiner oralen Prägung klassifiziert werden kann.
2. Zu jedem traditionellen bioenergetischen „Charakter“ (Beispiel: „oral“) ist sein polares Gegenstück (in diesem Beispiel: “kompensiert oral“) zu bestimmen. Eine bioenergetische Charakteranalyse ergibt folglich ein Profil von Werten auf mehreren Skalen (schizoid, oral, psychopathisch ...). Jede Skala spannt dabei eine Dimension zwischen zwei Extremen (Beispiel: „oral – kompensiert oral“) auf, deren eines Ende durch einen der klassischen bioenergetischen Charaktere markiert wird.
3. Es bedarf einer Beschreibung, Einordnung und Ortsbestimmung der so konstruierten bioenergetischen Charakterdimensionen in Beziehung zum persönlichkeitspsychologischen Modell.