Der dimensionale Ansatz geht davon aus, dass jeder Persönlichkeitszug (“Dimension”) - zum Beispiel “Gewissenhaftigkeit” - von Mensch zu Mensch einen anderen persönlichkeitsspezifischen Ausprägungsgrad, eine bestimmte Stärke besitzt. Sie ist mithilfe von Fragebögen und anderen Messverfahren erfassbar.
Man kann die Stärke der Ausprägung von Persönlichkeitsmerkmalen, die generell verbreitet sind (wie die “BIG FIVE”) mit Fragebögen einigermaßen genau erfassen und erhält so ein PROFIL der Persönlichkeitsstruktur.
Die TYPOLOGISCHE Erfassung der Persönlichkeit dagegen versucht, eine Person schwerpunktmäßig einem speziellen Typus zuzuordnen, wie beispielsweise die alte Säftelehre die Menschen fünf Grundtypen zuordnete (sanguinisch, phlegmatisch usw.). Auch in der bioenergetischen Analyse besteht bis heute die Versuchung, Menschen bestimmten Charakterstrukturen (schizoid, oral, psychopathisch ...) zuzuordnen, womit jemand zum entsprechenden Typ “gestempelt” wir: “Du bist ein oraler Typ”
Die Faktorenanalyse eines Itempools von 99 Fragen, die der Erfassung bioenergetischer Strukturen dienen sollten und deren Formulierung strikt aus der bioenergetischen Perspektive heraus erfolgt war, führte unerwartet zur Reproduktion der “Big Five”.
Die bioenergetischen Charaktere ließen sich dann an den Polen der „Big Five“ wie folgt lokalisieren:
Faktor 1 (Neurotizismus) repräsentierte am neurotischen Pol Oralität (r = 90), Schizoidität (r = 78) und am emotional stabilen entgegengesetzten Pol Psychopathie (r = 57). Faktor 2 (Antagonismus) ist das Big-Five-Pendant zu Lowen’s Rigidität, Faktor 5 (Offenheit für Erfahrung, Beweglichkeit) entspricht dem masochistischen Typus am unbeweglich - konformistisch - konservativen Pol und der psychopathische Typ ist mit r = 64 stärker als bei Faktor 1 am offen-beweglichen Pol von Faktor 5 vertreten. Weitere nennenswerte Bezüge des psychopathischen Typs finden sich zu den Faktoren Gewissenhaftigkeit (r = 65) und Extraversion (r = 66). Im Unterschied zu den anderen bioenergetischen Charakteren ist damit der psychopathische Typ im persönlichkeitspsychologischen Raum faktorenanalytisch am wenigsten einheitlich bzw. prägnant repräsentiert, sondern vorwiegend eine „Mixtur“ aus den Faktoren Neurotizismus, Geltungsdrang/Beweglichkeit (Offenheit für Erfahrung), Gewissenhaftigkeit und Extraversion, was die Frage aufwirft, wieweit es sich hier um ein Kunstprodukt handelt. Gleichwohl gibt zu denken, daß die psychopathischen Fragen in der Clusteranalyse perfekt einheitlich in einem eigenen Cluster fusioniert waren.
Die zwei Big-Five-Faktoren Gewissenhaftigkeit und Extraversion sind in der bioenergetischen Analyse anscheinend nicht adäquat eigenständig vertreten, sie fehlen einfach. Eine Neigung zum sozialen Rückzug (Introversion) kann bei masochistischen, oralen und schizoiden Personen, zu Extraversion bei psychopathischen, rigiden und phallischen Personen festgestellt, eine Tendenz zu Nachlässigkeit (Faktor Gewissenhaftigkeit) bei hysterischen, masochistischen, rigiden, schizoiden und oralen Personen und zu Gewissenhaftigkeit beim psychopathischen Typ beobachtet werden.
Die Interkorrelationsmatrix der zehn Skalen der BPA bei einer Stichprobe von 214 KlientInnen gibt einen Überblick über die Stärke der Zusammenhänge (Höhe der Korrelation) zwischen „Big Five“-Faktoren und bioenergetischen Skalen. Die bioenergetischen Skalen wurden dabei zeitlich in ungefährer Entsprechung zur bisherigen klinischen Tradition angeordnet. Dabei werden schizoide und orale Themen vorwiegend Einflüssen des ersten Lebensjahres zugerechnet, Psychopathie, Masochismus und Gewissenhaftigkeit denen des zweiten bis etwa dritten Lebensjahres und Extraversion, Antagonismus, phallische und hysterische Prägung denen des etwa vierten bis etwa sechsten Lebensjahres.
„Big Five“
neuro- tisch
schizoid
oral
psycho- pathisch
maso- chistisch
gewissen- haft
extra- vertiert
rigide
phallisch
1
Neurotizismus
schizoid
oral
78
90
66
psychopathisch
-57
-52
-59
5
masochistisch
55
59
53
-64
3
Gewissenhaftigkeit
-36
-37
-33
65
-43
4
Extraversion
-28
-29
-30
66
-40
07
2
Rigidität
29
24
25
01
12
-39
34
phallisch
hysterisch
20
61
16
44
19
52
21
-32
-06
39
-12
-44
47
02
65
74
46
Interkorrelationen der phasenspezifisch angeordneten Skalen
Aus der Höhe der Korrelationen zwischen je zwei Skalen ist die Enge der ‚Verwandtschaft‘ zwischen ihnen ablesbar. Die Anzahl relativ hoher Korrelationen (Zusammenhänge) in der Matrix war Zeichen dafür, daß eine geringere Anzahl von Faktoren ausreichen würde, um das Wechselspiel der Zusammenhänge aufzuklären. Hierzu führte ich eine Faktorenanalyse (FA) durch.
Die FA der Interkorrelationsmatrix - statistisch wegen der Doppelauswertung einiger Items für mehrere Skalen nicht korrekt – führte zu drei „Faktoren 2. Ordnung“, die mit Korrelationen über .90 gut den drei Faktoren entsprechen, die eine FA des gesamten Itempools (der 84 Items der Bioenergetischen Prozess-Analyse)– abgestellt auf drei Faktoren - erzielte.
Die folgende Tabelle stellt die Korrelationen der Testskalen mit den drei (aus der FA der Skalen) extrahierten Faktoren 2. Ordnung dar. Es gelingt auf diese Weise, die Skalen entsprechend ihrer Zugehörigkeit zu einem Meta-Faktor in eine Ordnung zu bringen. Die Matrix demonstriert den engen Zusammenhang von Neurotizismus, schizoider und oraler Struktur - in zweiter Linie psychopathischer und masochistischer Struktur - mit dem Meta-Faktor 1. Psychopathische und masochistische Struktur und Gewissenhaftigkeit sind vorwiegend dem Meta-Faktor 3 zuzuordnen und Extraversion, Antagonismus (Rigidität), phallische und hysterische Struktur dem Meta-Faktor 2.
Das Interessante daran ist nun, daß die Struktur dieser korrelativen Zusammenhänge die traditionelle psychodynamische Auffassung dreier grundlegender Entwicklungsphasen innerhalb der Kindheit bestätigt.
Skalen
Neurotizismus
schizoid
oral
Meta-Faktor 1 sensory attachment
ca. 1. Lj.
95
85
88
Meta-Faktor 3 sensorimotor- autonomy
ca. 2.-3. Lj.
17
11
13
Meta-Faktor 2 intracortical- initiative
ca.4.-6. Lj
39
45
38
psychopathisch
masochistisch
gewissenhaft
-62
67
-38
23
-06
-20
-69
73
-84
extravertiert
antagonistisch
phallisch
hysterisch
-37
29
21
63
60
90
80
61
-25
29
-01
39
Korrelationen der Einzelskalen mit den drei Faktoren 2. Ordnung
Sie weist bei näherem Hinsehen eine deutliche Entsprechung mit dendrei grundlegenden Entwicklungsstadien der Kindheit im Diathese (Vulnerabilitäts)-Streß-Modell von MILLON (1981) auf. Millon, der 1994 das auf DSM IV abgestellte Clinical Multiaxial Inventory-III veröffentlichte, unterscheidet unter Betonung der Wichtigkeit früher kindlicher - vor allem zwischenmenschlicher - Erfahrungen grob drei neuropsychologische Entwicklungsstufen, die er mit Ergebnissen der neuropsychophysiologischen Erforschung der Kleinkindentwicklung begründet:
zwischen Geburt und etwa 18. Lebensmonat. Hier geht es um eine ungestörte Kind-Eltern-Beziehung mit einer Ausgewogenheit zwischen Über- und Unterstimulation und der Gefahr der Begründung von Unausgewogenheiten im Bereich der interpersonellen Abhängigkeit und Unabhängigkeit.
Die sensory-attachment stage
Die sensorimotor-autonomy stage
etwa zwischen 12. Lebensmonat und dem 6. Lebensjahr ist gekennzeichnet durch Lernübergänge von der grobmotorischen zur feinmotorischen Regulation. Unterforderungen und zu wenig Anregung führen hier zu unzureichendem Neugierverhalten und mangelnder seelisch-körperlicher Beweglichkeit mit der Folge erhöhter Selbstunsicherheit, Passivität und Unterwürfigkeit. Überforderungen, übermäßiges Gewährenlassen steigern die Neigung zu übersteigerter Selbstrepräsentation und sozialer Unangepaßtheit.
des Alters von 4 Jahren bis zur Adoleszenz ist die Zeit gesteigerten Zuwachses an höheren kortikalen Hirnfunktionen. Unterforderungen in dieser Phase können die Entwicklung eigener Lebensziele behindern und zu einem Mangel an Disziplin oder gesteigerter Impulsivität führen. Überforderung oder zuviel Gewährenlassen schränken die Entwicklung von Spontaneität, Flexibilität und Kreativität ein und begünstigen ein eher rigides, selbstbeschränkendes Persönlichkeitsmuster.
Die intracortical-initiative stage
Ein vorläufiger Klassifikationsversuch integriert die verschiedenen Aspekte - Entwicklungsphasen, „Big Five“, psychodynamische Charaktere - unter der Perspektive einer zeitlichen Zuordnung, wobei die Polungen soweit möglich entsprechend den Korrelationen ausgerichtet wurden.
Gemeinsames entwicklungspsychologisches Modell der grundlegenden psychodynamischen Konstrukte und der fünf grundlegenden Persönlichkeitsdimensionen