Wenn die Charakterstruktur von Gefühlen der Abhängigkeit, der inneren Leere und der Depression beherrscht ist, die mit Hochstimmung abwechselt, nennen wir sie den oralen Charakter. Bioenergetisch ist sie gekennzeichnet durch eine Schwäche der Aggressionsfunktion, einen Mangel an Kraft in den Beinen und durch eine Ich-Struktur, die weder in der Realität noch in der Genitalität sicher verankert ist.
Aus Gründen, die noch nicht vollständig geklärt sind, wird das Längenwachstum betont. Der Körper ist also lang und dünn. Eine mögliche Erklärung lautet, daß die Knochen wegen der verzögerten Reife unverhältnismäßig stark wachsen können. Ein anderer Faktor ist vielleicht die Unfähigkeit der zu schwach entwickelten Muskeln, das Knochenwachstum unter Kontrolle zu halten.
Der Mangel an Energie und Kraft ist im unteren Teil des Körpers am deutlichsten zu beobachten, da die körperliche Entwicklung des Kindes vom Kopf nach unten verläuft.
Die Kontaktpunkte zur Umwelt sind ungenügend geladen. Die Augen sind schwach und neigen zur Kurzsichtigkeit. Die Geschlechtsorgane sind nicht voll erregungsfähig.
Es versteht sich von selbst, daß die genitale Funktion des Menschen mit oralem Charakter schwach ist. Oralität und Genitalität sind einander entgegengesetzte Tendenzen. Die eine hängt mit der Funktion der Ladung zusammen, die andere mit der Entladung. Der sexuelle Drang des Oralen strebt nach Kontakt mit dem Partner. Entladung ist von untergeordneter Bedeutung. Die Sexualität vertritt das Bedürfnis, aufzunehmen, sich vom Partner zu nähren; d. h. das Geschlechtsorgan dient dem oralen Bedürfnis. Die genitale Entladung ist schwach, sowohl beim Mann als auch bei der Frau. Bei der Frau fehlt oft ein definitiver Höhepunkt oder Orgasmus. Es besteht jedoch niemals Frigidität. Was fehlt, ist die Stärke des motorischen Antriebs, die Gefühle zu entladen.
Die Muskulatur ist unterentwickelt; aber nicht so sehnig oder dünn wie beim schizoiden Körper. Diese Entwicklungsschwäche ist in Armen und Beinen am auffälligsten. Lange, spindeldürre Arme sind bei dieser Struktur weitverbreitet. Die Füße sind ebenfalls dünn und relativ knochig. Die Beine machen den Eindruck, sie könnten den Körper nicht gut tragen. Die Knie werden im allgemeinen geschlossen gehalten, um den Beinen mehr Standfestigkeit zu verleihen. Der Körper wirkt, als fiele er in sich zusammen, was zum Teil durch die Schwäche des Muskelsystems bedingt ist.
Oft beobachtet man körperliche Anzeichen für Unreife. Nicht nur bei Frauen, sondern auch bei Männern kann das Becken ungewöhnlich klein sein. Die Körperbehaarung ist häufig sehr spärlich. Bei Frauen ist manchmal der ganze Wachstumsprozeß verzögert, was ihren Körper kindlich aussehen läßt.
Menschen mit einem oralen Charakter atmen nicht richtig durch, was den niedrigen Energiespiegel ihrer Persönlichkeit erklärt. Der Entzug der oralen Triebbefriedigung verminderte die Kraft des Saugimpulses. Gute Atmung hängt von der Fähigkeit ab, die Luft tief einzusaugen.
Der orale Charakter leidet unter einem inneren Gefühl der Leere. Er erwartet ständig von anderen, daß sie ihn ausfüllen, obgleich er manchmal so tut, als wäre er es, der ihnen Halt gibt. Die innere Leere widerspiegelt die Unterdrückung starker Sehnsuchts- oder Wunschgefühle, die zu befreiendem Weinen und tieferem Durchatmen führen würden, wenn man es fertigbrächte, sie auszudrücken.
Ob man psychologisch, also an Angst, oder biologisch, also an Muskelverspannungen und Triebenergie, denkt, der orale Charakter ist durch die Unfähigkeit gekennzeichnet, aggressiv zu sein. Die Schwäche des Aggressionstriebes spiegelt sich in einer Schwäche des Rückens. Die Müdigkeit, über die die Betreffenden klagen, läßt sich oft auf diese Schwäche des Rückens, die in der Lumbalregion lokalisiert ist, zurückverfolgen. Durch diesen Umstand fehlt es dem Menschen mit oralem Charakter als Persönlichkeit am Gefühl des „Rückgrats“. Wir kennzeichnen diesen Charakter als „rückgratlos“ im Gegensatz zum Masochisten, der auch kein Gefühl des Rückgrats hat, obwohl seine Muskeln deutlich überentwickelt sind. Dem oralen Charakter fällt es sehr schwer, eine starke Oppositionsstellung einzunehmen, und er hat die Tendenz, eher wegzulaufen, als sich einem Angriff zu stellen.
Sehen wir uns das Bild noch einmal an, um herauszufinden, wie die verschiedenen Züge dieser Charakterstruktur mit diesem Konzept von Aggressionsmangel und innerer Leere zusammenhängen. Der Neid läßt sich durch das Gefühl der Entbehrung erklären. Anklammerung und Blutsaugerei sind beim Erwachsenen das Äquivalent für das Getragenwerden und das Saugen des Säuglings. Die Schwäche der Arme und Beine weist ebenfalls auf eine infantile Struktur hin. Der abnorme Appetit muß als ein Versuch gedeutet werden, sich zu füllen. Ungeduld und Ruhelosigkeit sind eine Folge des unbefriedigten Verlangens.
Wegen eines niedrigen Energiespiegels unterliegt der orale Charakter Stimmungsschwankungen von starken Depressionen bis zu grundloser Freude. Die Neigung zur Depression ist ein symptomatisches Merkmal der oralen Persönlichkeit. Typisch sind depressive Phasen in der späten Kindheit oder frühen Jugend. Das orale Kind weist allerdings nicht das autistische Verhalten auf, das schizoide Kinder kennzeichnet. Im übrigen müssen wir uns darüber klar sein, daß eine orale Persönlichkeit schizoide Merkmale haben kann und umgekehrt.
Ein anderes typisches Merkmal des oralen Menschen ist die Einstellung, „man“ schulde ihm etwas. Das kann in der Meinung ausgedrückt werden, die Welt sei ihm ein besseres Leben schuldig. Dieses Merkmal geht auf das frühe Entzugserlebnis zurück.
Ursächliche und historische Faktoren: Der frühzeitige Entzug kann darin bestanden haben, daß der Betreffende die Mutter tatsächlich verlor oder zu lange auf sie verzichten mußte - weil sie starb, krank war oder mitverdienen mußte. Auch eine Mutter, die selbst an Depressionen leidet, steht ihrem Kind nicht voll zur Verfügung.
Die Fallgeschichte zeigt oft eine frühreife Entwicklung: Das Kind lernte ungewöhnlich früh sprechen und laufen. Lowen erklärt diese Entwicklung als den Versuch, das Gefühl, etwas verloren zu haben, durch schnelle Selbständigkeit zu überwinden.
Orale Menschen hatten als Kind oft Enttäuschungs- oder Frustrationserlebnisse, als sie nach der Mutter, dem Vater oder den Geschwistern griffen, um sich Wärme, Kontakt und Halt zu verschaffen. Solche Enttäuschungen können ein Gefühl der Bitterkeit in der Persönlichkeit hinterlassen.
Die Verdrängung des Verlangens nach der Mutter bringt ein Kind hervor. das zu früh unabhängig ist. In der Folge neigen diese Kinder dazu, auch im Sprechen und in der Intelligenz frühreif zu sein. Das Laufenlernen kann verfrüht oder verspätet sein, aber diese Kinder sind niemals wirklich sicher auf ihren Beinen. Ihr Gleichgewichtssinn ist mangelhaft. Ihre Mütter klagen, daß sie oft hinfallen, weil sie über Gegenstände stolpern, die offen daliegen.
Wenn es auch so aussehen mag, als sei ein Kind durch übermäßige Verwöhnung auf die orale Stufe fixiert worden, ergeben weitere Nachforschungen häufig, daß vorher ein Mangel an mütterlicher Unterstützung vorgelegen haben kann, sei es auch für eine bestimmte Zeit der Belastung der Mutter durch eigene Probleme (beruflich, familiär o.ä.). Noch soviel Spielzeug, Kleidung oder Versorgung mit materiellen Gütern kann niemals ein Kind für den Mangel an körperlichem Kontakt mit der Mutter und an (seitens des Kindes erlebter) Zuneigung ihrerseits entschädigen. Solche Kinder verhalten sich möglicherweise wie verwöhnte Fratzen. Es sieht so aus, als bekämen sie alles, was sie wollen, aber sie sind nicht glücklich.
Wir beginnen die bioenergetische Therapie mit den Beinen. Sie werden durch besondere Übungen gestärkt, und man bringt mehr Energie in die Füße hinunter. Die Arbeit an den Beinen steht während der ganzen Therapie an erster Stelle und wird ständig fortgesetzt. Während das biologische Wachstum vom Kopf abwärts verläuft, ist die bioenergetische Therapie vom Boden aufwärts orientiert.
Die Muskelverspannungen im Rücken und in den Schultern müssen gelockert werden. Der Patient wird in den Sitzungen zu Bewegungen des Ausgreifens und des Schlagens ermutigt. Die kontrahierte Öffnung der Kehle sollte erweitert werden, so daß eine größere Energieaufnahme durch das Atmen möglich wird. Alle Körperarbeit wird funktionell auf den Endzweck ausgerichtet: die Steigerung der genitalen Empfindung und die Fähigkeit zu genitaler Entladung. Wenn die genitale Ladung zunimmt, nimmt auch die Ladung im Kopf zu, so daß ein besseres Erfassen der äußeren Realität möglich wird.
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