Der orale Charakter nach LOWEN


Beschreibung: Eine Persönlichkeit hat eine orale Charakterstruktur, wenn sie viele Züge aufweist, die für die orale Lebensphase - das Babyalter - typisch sind.  Bei diesen Zügen handelt es sich um mangelnde Selbständigkeit, die Neigung, sich an andere zu klammern, verminderte Aggressivität und das innere Gefühl, man müsse gehalten, gestützt und behütet werden.  Sie weisen auf fehlende Befriedigung im Babyalter hin und stellen eine gewisse Fixierung auf jene Entwicklungsstufe dar.  Bei manchen Menschen werden diese Züge durch bewußt angenommene kompensatorische Haltungen kaschiert.  Sie tun übertrieben selbständig, doch in Streß-Situationen bricht diese Fassade zusammen.  Die zugrunde liegende Lebenserfahrung des oralen Charakters ist Deprivation, also Entzug, während es sich bei der schizoiden Struktur um Zurückweisung handelt.

Wenn die Charakterstruktur von Gefühlen der Abhängigkeit, der inneren Leere und der Depression beherrscht ist, die mit Hochstimmung abwechselt, nennen wir sie den oralen Charakter.  Bioenergetisch ist sie gekennzeichnet durch eine Schwäche der Aggressionsfunktion, einen Mangel an Kraft in den Beinen und durch eine Ich-Struktur, die weder in der Realität noch in der Genitalität sicher verankert ist. 

Bioenergetischer Zustand: Energetisch gesehen ist die orale Struktur ein Stadium ungenügender Ladung.  Die Energie ist nicht im Kern eingefroren wie beim schizoiden Zustand; sie fliegt zur Peripherie des Körpers, aber nur schwach.

Aus Gründen, die noch nicht vollständig geklärt sind, wird das Längenwachstum betont.  Der Körper ist also lang und dünn.  Eine mögliche Erklärung lautet, daß die Knochen wegen der verzögerten Reife unverhältnismäßig stark wachsen können.  Ein anderer Faktor ist vielleicht die Unfähigkeit der zu schwach entwickelten Muskeln, das Knochenwachstum unter Kontrolle zu halten.

Der Mangel an Energie und Kraft ist im unteren Teil des Körpers am deutlichsten zu beobachten, da die körperliche Entwicklung des Kindes vom Kopf nach unten verläuft.

Die Kontaktpunkte zur Umwelt sind ungenügend geladen.  Die Augen sind schwach und neigen zur Kurzsichtigkeit.  Die Geschlechtsorgane sind nicht voll erregungsfähig.

Es versteht sich von selbst, daß die genitale Funktion des Menschen mit oralem Charakter schwach ist.  Oralität und Genitalität sind einander entgegengesetzte Tendenzen.  Die eine hängt mit der Funktion der Ladung zusammen, die andere mit der Entladung.  Der sexuelle Drang des Oralen strebt nach Kontakt mit dem Partner.  Entladung ist von untergeordneter Bedeutung.  Die Sexualität vertritt das Bedürfnis, aufzunehmen, sich vom Partner zu nähren; d. h. das Geschlechtsorgan dient dem oralen Bedürfnis.  Die genitale Entladung ist schwach, sowohl beim Mann als auch bei der Frau.  Bei der Frau fehlt oft ein definitiver Höhepunkt oder Orgasmus.  Es besteht jedoch niemals Frigidität.  Was fehlt, ist die Stärke des motorischen Antriebs, die Gefühle zu entladen.

Körperliche Erscheinung: Der Körper ist gewöhnlich lang und dünn.  Er unterscheidet sich insofern vom schizoiden Erscheinungsbild, als er nicht zusammengezogen oder verkrampft wirkt.

Die Muskulatur ist unterentwickelt; aber nicht so sehnig oder dünn wie beim schizoiden Körper.  Diese Entwicklungsschwäche ist in Armen und Beinen am auffälligsten.  Lange, spindeldürre Arme sind bei dieser Struktur weitverbreitet.  Die Füße sind ebenfalls dünn und relativ knochig.  Die Beine machen den Eindruck, sie könnten den Körper nicht gut tragen.  Die Knie werden im allgemeinen geschlossen gehalten, um den Beinen mehr Standfestigkeit zu verleihen.  Der Körper wirkt, als fiele er in sich zusammen, was zum Teil durch die Schwäche des Muskelsystems bedingt ist.

Oft beobachtet  man  körperliche  Anzeichen  für  Unreife.  Nicht nur bei Frauen, sondern auch bei Männern kann das Becken ungewöhnlich klein sein.  Die Körperbehaarung ist häufig sehr spärlich.  Bei Frauen ist manchmal der ganze Wachstumsprozeß verzögert, was ihren Körper kindlich aussehen läßt.

Menschen mit einem oralen Charakter atmen nicht richtig durch, was den niedrigen Energiespiegel ihrer Persönlichkeit erklärt.  Der Entzug der oralen Triebbefriedigung verminderte die Kraft des Saugimpulses.  Gute Atmung hängt von der Fähigkeit ab, die Luft tief einzusaugen.

Psychologische Begleitmerkmale: Dem oralen Charakter fällt es im wörtlichen und übertragenen Sinn schwer, auf eigenen Füßen zu stehen.  Er neigt dazu, sich an andere zu klammern oder anzulehnen.  Wie ich bereits erwähnte, wird diese Tendenz manchmal durch eine übertrieben selbständige Haltung kaschiert.  Das Anklammern widerspiegelt sich auch darin, daß der orale Charakter nicht gut oder überhaupt nicht allein sein kann.  Es besteht ein übertriebenes Bedürfnis nach Kontakt mit anderen Menschen, nach deren Wärme und Hilfe.

Der orale Charakter leidet unter einem inneren Gefühl der Leere. Er erwartet ständig von anderen, daß sie ihn ausfüllen, obgleich er manchmal so tut, als wäre er es, der ihnen Halt gibt.  Die innere Leere widerspiegelt die Unterdrückung starker Sehnsuchts- oder Wunschgefühle, die zu befreiendem Weinen und tieferem Durchatmen führen würden, wenn man es fertigbrächte, sie auszudrücken.

Ob man psychologisch, also an Angst, oder biologisch, also an Muskelverspannungen und Triebenergie, denkt, der orale Charakter ist durch die Unfähigkeit gekennzeichnet, aggressiv zu sein.  Die Schwäche des Aggressionstriebes spiegelt sich in einer Schwäche des Rückens.  Die Müdigkeit, über die die Betreffenden klagen, läßt sich oft auf diese Schwäche des Rückens, die in der Lumbalregion lokalisiert ist, zurückverfolgen.  Durch diesen Umstand fehlt es dem Menschen mit oralem Charakter als Persönlichkeit am Gefühl des „Rückgrats“.  Wir kennzeichnen diesen Charakter als „rückgratlos“ im Gegensatz zum Masochisten, der auch kein Gefühl des Rückgrats hat, obwohl seine Muskeln deutlich überentwickelt sind.  Dem oralen Charakter fällt es sehr schwer, eine starke Oppositionsstellung einzunehmen, und er hat die Tendenz, eher wegzulaufen, als sich einem Angriff zu stellen.

Sehen wir uns das Bild noch einmal an, um herauszufinden, wie die verschiedenen Züge dieser Charakterstruktur mit diesem Konzept von Aggressionsmangel und innerer Leere zusammenhängen.  Der Neid läßt sich durch das Gefühl der Entbehrung erklären. Anklammerung und Blutsaugerei sind beim Erwachsenen das Äquivalent für das Getragenwerden und das Saugen des Säuglings.  Die Schwäche der Arme und Beine weist ebenfalls auf eine infantile Struktur hin.  Der abnorme Appetit muß als ein Versuch gedeutet werden, sich zu füllen.  Ungeduld und Ruhelosigkeit sind eine Folge des unbefriedigten Verlangens.

Wegen eines niedrigen Energiespiegels unterliegt der orale Charakter Stimmungsschwankungen von starken Depressionen bis zu grundloser Freude.  Die Neigung zur Depression ist ein symptomatisches Merkmal der oralen Persönlichkeit. Typisch sind depressive Phasen in der späten Kindheit oder frühen Jugend.  Das orale Kind weist allerdings nicht das autistische Verhalten auf, das schizoide Kinder kennzeichnet.  Im übrigen müssen wir uns darüber klar sein, daß eine orale Persönlichkeit schizoide Merkmale haben kann und umgekehrt.

Ein anderes typisches Merkmal des oralen Menschen ist die Einstellung, „man“ schulde ihm etwas.  Das kann in der Meinung ausgedrückt werden, die Welt sei ihm ein besseres Leben schuldig.  Dieses Merkmal geht auf das frühe Entzugserlebnis zurück.

Ursächliche und historische Faktoren: Der frühzeitige Entzug kann darin bestanden haben, daß der Betreffende die Mutter tatsächlich verlor oder zu lange auf sie verzichten mußte - weil sie starb, krank war oder mitverdienen mußte.  Auch eine Mutter, die selbst an Depressionen leidet, steht ihrem Kind nicht voll zur Verfügung.

Die Fallgeschichte zeigt oft eine frühreife Entwicklung: Das Kind lernte ungewöhnlich früh sprechen und laufen. Lowen erklärt diese Entwicklung als den Versuch, das Gefühl, etwas verloren zu haben, durch schnelle Selbständigkeit zu überwinden.

Orale Menschen hatten als Kind oft Enttäuschungs- oder Frustrationserlebnisse, als sie nach der Mutter, dem Vater oder den Geschwistern griffen, um sich Wärme, Kontakt und Halt zu verschaffen.  Solche Enttäuschungen können ein Gefühl der Bitterkeit in der Persönlichkeit hinterlassen.

Die Verdrängung des Verlangens nach der Mutter bringt ein Kind hervor. das zu früh unabhängig ist.  In der Folge neigen diese Kinder dazu, auch im Sprechen und in der Intelligenz frühreif zu sein.  Das Laufenlernen kann verfrüht oder verspätet sein, aber diese Kinder sind niemals wirklich sicher auf ihren Beinen.  Ihr Gleichgewichtssinn ist mangelhaft.  Ihre Mütter klagen, daß sie oft hinfallen, weil sie über Gegenstände stolpern, die offen daliegen.

Wenn es auch so aussehen mag, als sei ein Kind durch übermäßige Verwöhnung auf die orale Stufe fixiert worden, ergeben weitere Nachforschungen häufig, daß vorher ein  Mangel an mütterlicher Unterstützung vorgelegen haben kann, sei es auch für eine bestimmte Zeit der Belastung der Mutter durch eigene Probleme (beruflich, familiär o.ä.).  Noch soviel Spielzeug, Kleidung oder Versorgung mit materiellen Gütern kann niemals ein Kind für den Mangel an körperlichem Kontakt mit der Mutter und an (seitens des Kindes erlebter) Zuneigung ihrerseits entschädigen. Solche Kinder verhalten sich möglicherweise wie verwöhnte Fratzen. Es sieht so aus, als bekämen sie alles, was sie wollen, aber sie sind nicht glücklich.

Psychosomatik: Kopfschmerzen sind eine häufige Beschwerde der Menschen mit oralem Charakter.  Man kann ihr häufiges Auftreten durch die Verspannungen in Hals und Kopf erklären.  Jede Anstrengung, die einen starken Zustrom von Energie zum Kopf erzeugt, kann zu Druck-Kopfschmerzen oder zu Schwindelgefühlen führen, zu denen diese Menschen sehr stark neigen.  Die Muskelverspannungen gehören besonders stark zum oralen Charakter.  Man findet immer einen sehr starken Ring von Verspannungen im Schultergürtel und am Halsansatz.  Das Schulterblatt ist eng an den Thorax gebunden.  Beim Mann sind die Brustmuskeln überentwickelt.  Bei der Frau sind die Brüste meist groß, hängen herunter und sind spannungslos.  Die langen Muskeln des Rückens sind sehr angespannt, besonders zwischen den Schulterblättern, auf der Höhe der Zwerchfellschenkel und dort, wo sie am Kreuzbein entspringen.

Therapie: Wir haben schon gesehen, daß Energie, um den Organismus zu erfüllen, in der Umwelt verfügbar ist, daß der orale Charakter aber unfähig ist, sie einzufangen.  Man muß die Aggression dieser Menschen mobilisieren und verfügbar machen. Das ist kein einfaches Unterfangen, denn auch wenn der vielleicht seinen Mangel an Aggressivität spürt, müssen doch viele tiefsitzende Widerstände und Blockierungen beseitigt werden, um den Trieb zu mobilisieren.  Die Angst, abgelehnt und verlassen zu werden, und die Angst vor körperlichen Schmerzen sind real. Wir setzen dagegen die Realität der gegenwärtigen Misere, in der sich der Mensch mit oralem Charakter befindet. Da er die objektive Realität nicht leugnet, wie der schizoide Charakter, weicht  das Problem schließlich der Geduld, der konsequenten Logik der Realität des Erwachsenen und der Unterstützung durch Erwachsene.

Wir beginnen die bioenergetische Therapie mit den Beinen.  Sie werden durch besondere Übungen gestärkt, und man bringt mehr Energie in die Füße hinunter. Die Arbeit an den Beinen steht während der ganzen Therapie an erster Stelle und wird ständig fortgesetzt. Während das biologische Wachstum vom Kopf abwärts verläuft, ist die bioenergetische Therapie vom Boden aufwärts orientiert.

Die Muskelverspannungen im Rücken und in den Schultern müssen gelockert werden. Der Patient wird in den Sitzungen zu Bewegungen des Ausgreifens und des Schlagens ermutigt. Die kontrahierte Öffnung der Kehle sollte erweitert werden, so daß eine größere Energieaufnahme durch das Atmen möglich wird. Alle Körperarbeit wird funktionell auf den Endzweck ausgerichtet: die Steigerung der genitalen Empfindung und die Fähigkeit zu genitaler Entladung.  Wenn die genitale Ladung zunimmt, nimmt auch die Ladung im Kopf zu, so daß ein besseres Erfassen der äußeren Realität möglich wird.

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