Der hysterische Typ

Beschreibung: Mit dem oralen und dem masochistischen Typ haben wir zwei Charaktertypen besprochen, die man als ich-defiziente Strukturen betrachten kann.  Sie verdienen diese Bezeichnung, weil die Pendelbewegung der Energie, die die Grundlage der Ich-Wahrnehmung darstellt, nicht ihre vollständige Ausdehnung erreicht, so daß sie in der Gehirnfunktion und in der Genitalfunktion verankert wäre.  Man kann sie auch als impulsive Typen ansehen, im Gegensatz zu den Charaktertypen, die ein Vorherrschen der Affektblockierung zeigen.  Außerdem sind diese beiden Typen der Charakterstruktur häufigen Angstanfällen ausgesetzt, weil die Energieproduktion im allgemeinen die Fähigkeit übersteigt, diese Energie in der Arbeit oder im Sex abzuführen.  In diesem Kapitel bespricht Lowen einen Charaktertypus, der sich durch wenig Angst, mehr oder weniger starke Affektblokkierung und eine Ich-Struktur auszeichnet, die in einer etablierten Genitalfunktion verankert ist.

Lowen hat das Sexualverhalten einer hysterischen Patientin als ein Unterwerfungsverhalten mit dem Zweck gedeutet, Gunst und Liebe des Mannes zu erringen.  Der bioenergetische Sinn der Körperstruktur war ähnlich.  Der untere Teil des Körpers vom Becken abwärts war zwar weich und nachgiebig, aber die obere Hälfte war rigide und festgehalten.  Wenn die Genitalien auch ihre Zustimmung gaben, so sagte das Herz doch „nein“.  Man wird vielleicht fragen: „Wo ist die drohende Gefahr? Wovor fürchtet sich die Patientin, da sie doch den Geschlechtsverkehr akzeptiert?“ Die drohende Gefahr ist das tiefe gefühlsmäßige Sich-Einlassen.  Sollte das Herz seine großen Gefühle in den Genitalapparat ergießen, würde dieser schwere Ängste entwickeln, denn der Mensch mit hysterischem Charakter ist von schweren genitalen Rigiditäten oder Verkrampfungen bestimmt, die nur die Abfuhr mäßiger Energiemengen zulassen.  Die akzeptierte psychoanalytische Erklärung ist „die Fixierung an der genitalen Stufe der kindlichen Entwicklung, die durch die inzestuöse Bindung bestimmt wird“.  Solange diese inzestuöse Bindung nicht gelöst ist, wird die Liebe in zwei unvereinbare Komponenten aufgespalten: zärtliche Gefühle und Sinnlichkeit.  Der hysterische Charakter kann diese beiden Emotionen nicht in wesentlichem Maß zu einem einheitlichen Gefühl für einen Menschen vereinigen.

Wir benützen zwar den Ausdruck „Charakterpanzer“ als synonym mit „Charakterwiderstand“, aber wir sollten den Panzer nicht mit dem Charakter selbst verwechseln.  Jeder Neurotiker versucht, sich gegen die Gefahren und Drohungen von außen und von innen zu panzern.  Tatsächlich gelingt es dem Oralen und dem Masochisten bestenfalls nur zum Teil.  Beide Typen sind daher Angstanfällen ausgesetzt und haben noch andere Mechanismen entwickelt, um mit dieser Angst fertigzuwerden. Der Mensch mit oralem Charakter zieht sich aus der Realität entweder in die Phantasie oder in die Depression zurück; der Masochist flüchtet in eine brütende Einsamkeit.  Im Grunde sind beide im wesentlichen ungepanzerte Typen und infolgedessen sehr empfindlich gegenüber ihrer Umwelt.  Die Fähigkeit, sich zu panzern, steht nur Charakterstrukturen zur Verfügung, die auf einer genitalen Funktion gegründet sind.

Was ist also das wahre Wesen eines echten Muskelpanzers? Die bioenergetische Untersuchung der hysterischen Charakterstruktur zeigt, daß sie auf einer totalen Rigidität des Körpers beruht.  Der Rücken ist starr und unbeugsam.  Der Hals ist angespannt, und der Kopf wird aufrecht getragen.  Das Becken ist mehr oder weniger nach hinten gezogen und wird ganz festgehalten.  Wichtiger noch, die Vorderseite des Körpers ist hart.  Die Rigidität des Brustkorbs und des Bauches ist wesentlich für einen Panzer.  Die Vorderseite ist die weiche und verwundbare Seite des Körpers, sein empfindlicher Aspekt, der Bereich der zärtlichen Gefühle.  Wenn diese Seite ungeschützt ist, dient alle sogenannte Panzerung des Rückens zu nichts.

Die Strukturveränderung während der Therapie entwickelt sich durch einen Wandel der Dynamik der Charakterstruktur; was den hysterischen Charakter verändert, ist die Befreiung der Aggression von ihrer Abwehrfunktion.  Man kann keinen Panzer beseitigen, ohne verdrängte Wut freizusetzen, die dann stark in die Arme und Hände strömt.  Wenn die Schultern beweglich werden, entspannt sich die Wand des Brustkorbes, die Atmung vertieft sich, und die Energieproduktion nimmt zu.

Ein strenger, autoritärer Vater kann in dem kleinen Mädchen große Angst vor den Männern hervorrufen.  In einem solchen Fall wird nicht nur das genitale Verlangen gehemmt, sondern die Wut, die infolge der Frustration entsteht, wird blockiert und ihrerseits verdrängt.  Die Hemmung und Verdrängung von Wut auf den Mann beim hysterischen Charakter wird nicht genügend gewürdigt.

Wenn wir erkennen, daß eine ambivalente Einstellung zum Mann die Grundlage der hysterischen Charakterstruktur ist, läßt sich vieles erklären.  Einerseits wird das Verlangen durch eine Angst blockiert, die ihre Wurzeln in der ursprünglichen Ablehnung der Sexualität des Kindes durch den Vater hat; andererseits wird die Wut durch das verdrängte Verlangen gehemmt, Man könnte das Problem dadurch vereinfachen, daß man sagte, das Verlangen werde ebenso durch verdrängte Wut blockiert, wie die Wut durch verdrängtes Verlangen blockiert wird.  Die Versteifung, die die Verdrängung dieser einander entgegengesetzten Impulse hervorruft, von denen einer an der Vorderseite, der andere an der Rückseite des Körpers wirkt, erzeugt den starren Panzer des hysterischen Charakters.

Sexuelle Unterwerfung, die eine aggressive Haltung verdeckt, ist das unterscheidende Merkmal des hysterischen Charakters.  Das Reaktionsmuster scheint zu sein: Aufreizen, Widerstand, dann Unterwerfung.

Der Betreffende merkt nicht immer bewußt, daß er auf einem reduzierten Energieniveau funktioniert, aber Gefühle der Langeweile, das Gefühl, festgefahren zu sein, und Unzufriedenheit sind häufig.

Wenn man versucht, an das Herz des Hysterikers heranzukommen, die Gefühle tiefer Liebe zu mobilisieren, begegnet einem ein höchst entschlossener Widerstand.  Die bioenergetische Untersuchung zeigt, daß diese Abwehr in Form von Muskelverspannungen im Hals und im Kiefer lokalisiert ist. Diese verleihen den betroffenen Strukturen Steifheit und Unbeweglichkeit. Der ganze Hals fühlt sich starr an, und die Zähne werden zusammengebissen.  Eine Analyse dieses Ausdrucks sagt uns, daß er von Stolz und Entschlossenheit bestimmt ist.  Es gibt kaum einen hysterischen Charakter, der diese Züge von Stolz und Entschlossenheit nicht hat, und bei dem dieser entschlossene Stolz nicht der Schlüssel zu seinem Charakter  wäre.  Die orale und die masochistische Charakterstruktur haben diese Eigenschaft gewiß nicht.  Man könnte sagen, bei ihnen ist der Mangel an Stolz als Charakterfehler zu sehen.  Selbstverständlich gibt es einen natürlichen Stolz, aber der Stolz des hysterischen Charakters ist mehr oder weniger festgelegt, unbeweglich und entschlossen.  Außerdem kann man die Intensität dieses steifen Stolzes quantitativ mit dem Maß korrelieren, in dem der Charakter eine Tendenz zu hysterischer Symptomatik hat.

Genauso, wie man keinen hysterischen Charakter ohne dieses Gefühl des Stolzes finden kann, findet man bei diesen Charakterstrukturen immer ein tiefes Gefühl der Gekränktheit.  Dieses unbewußte Gefühl, gekränkt worden zu sein, ist so stark, daß es das Verhalten in Richtung auf eine unbewußte Einstellung bestimmt, keine Kränkung mehr erleiden zu wollen.  Tatsächlich sind Stolz und Entschlossenheit Aspekte dieser Haltung.  Warum ist dies typisch hysterisch?

Der Mensch mit oralem Charakter ist viel tiefer verletzt worden als derjenige mit einem hysterischen Charakter, aber es fehlt ihm der Stolz dieses letzteren.  Der Grund dafür ist sehr einfach, wenn man sich daran erinnert, daß der orale Charakter als eine „besitzlose“ Struktur bezeichnet worden ist.  Das Liebesbedürfnis des oralen Charakters ist so groß, daß seine schwachen Abwehrversuche rasch zusammenbrechen.  Das ist eines der Kennzeichen der oralen Charakterstruktur.  Der Masochist kann nicht stolz sein, weil er sich unzulänglich fühlt.  Er ist masochistisch, weil er danach strebt, zu leiden.  Die Verletzung, die der Orale erlitten hat, war eine Deprivation auf der oralen Stufe und in einem Alter, wo noch keine Abwehr möglich war.  Der Masochismus entwickelt sich aus demütigenden Erlebnissen, die das Ich zerschmettern.  Sein Gegenaspekt ist der Sadismus, den man psychologisch als Rachemechanismus deuten kann.  Die Kränkung, die die Hysterika erlitten hat, war die Ablehnung ihrer Liebe auf genitaler Ebene.  Dies geschieht, weil diese Liebe zuerst dem Vater angeboten wird, der natürlich nicht auf sie reagieren kann.  Es geht hier nicht um eine einmalige Erfahrung, sondern um die Tatsache, daß das kleine Mädchen wegen der ödipalen Situation zwischen starken Impulsen sexueller Liebe und der Angst vor Ablehnung eingeklemmt ist.

Da das Kind gekränkt worden ist, weil es seine Liebe zum Ausdruck gebracht hat, lernt es allmählich, seine Verletzlichkeit gegenüber derartiger Kränkung herabzusetzen.  Es tut dies, indem es sich „versteift“, als wollte es sagen: „Ich werde meinem Gefühl der Liebe zu dir nicht nachgeben, dann kannst du mich nicht mehr kränken, indem du mich ablehnst.“ Stolz ist die Haltung, die dieses Gefühl ausdrückt.  Die „Versteifung“ findet an der Rückseite des Körpers statt, von der Schädelbasis bis zum Kreuz.  Im Verlauf dieses Prozesses versteift sich der Hals, so daß der Kopf sehr aufrecht getragen wird.  Da die Analyse in der umgekehrten Richtung zur Entwicklung der Charakterstruktur vorgeht, begegnet man bei der Therapie des hysterischen Charakters als erstem großen Widerstand diesem Stolz.

Rigidität der Ich-Struktur und Panzerung sind eine Folge genitaler Frustration.  Deprivation führt zu innerer Leere und Oralität, Unterdrückung zu schwerer innerer Verspannung und Masochismus.  Genitale Frustration in der ödipalen Phase erzeugt ein Sich-versteifen.

Da weder der Orale noch der Masochist sich auf einer Ich-Ebene bis zur genitalen Stufe entwickeln, sind sie nicht in der Lage, ihre Liebe anzubieten.  Der Mensch mit oralem Charakter möchte vielmehr geliebt werden; der Masochist möchte anerkannt werden.  Natürlich zeigt jeder Mensch einige orale und einige masochistische Züge.

Da Frustration eine Lebenserfahrung ist und bleiben wird, müssen wir sagen, daß die Fähigkeit, sich zu versteifen, um Frustration zu ertragen, eine natürliche Abwehrreaktion des Organismus ist.  Sie wird nur krankhaft, wenn sie zum Charakter, d. h. zur einzigen Reaktionsweise wird, deren das Individuum fähig ist.

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