„Ist der Zwangscharakter überwiegend gehemmt, verhalten und depressiv, der hysterische Charakter nervös, agil, ängstlich, sprunghaft, so der typische phallisch-narzißtische im Auftreten selbstsicher, manchmal arrogant, elastisch, kräftig, oft imponierend“. Diese Züge sind allerdings nicht so scharf abgegrenzt. Arroganz ist oft das Kennzeichen von Menschen mit starken zwanghaften Zügen. Elastizität und Agilität können verwechselt werden. Diese Verwechslung ist in der folgenden Bemerkung Reichs deutlich. Über den phallisch-narzißtischen Charakter schrieb er: „ln den Gesichtszügen treten häufiger Härte und scharfe männliche Linien, sehr oft aber auch trotz athletischem Habitus feminine, mädchenhafte hervor (sogenanntes ‘Milchgesicht’)“.
In Bezug auf die Unterscheidung zwischen dem Zwangscharakter, der im wesentlichen ein europäischer Typus ist, und dem phallisch-narzißtischen Charakter zeigt Lowen, daß der Unterschied nur graduell ist und keiner eigenen Bezeichnung bedarf. Das heißt also nicht, daß das Konzept vom Zwangscharakter ungültig ist. Unter dem Gesichtspunkt der Symptomatik kann man einen Zwanghaften vom typischen phallisch-narzißtischen Charakter unterscheiden, und wenn eine Analyse als Symptom- oder Widerstandsdeutung durchgeführt wird, hat eine solche Unterscheidung ihren Wert. Bioenergetisch gesehen sind beide rigide, gepanzerte Strukturen, die sich nur gradweise unterscheiden. Sehen wir uns jedoch zunächst einen typischen phallisch-narzißtischen Charakter an, dann sind solche Varianten, die zu zwanghaftem Verhalten führen, leichter zu verstehen.
Auch die Bedeutung der breiten Schultern wurde klar. Hochgezogene und eckige Schultern sind ein Zeichen von verfrühter Verantwortlichkeit. Es ist, als würden die Schultern gestrafft, um eine besonders schwere Last zu tragen. Bioenergetisch lenkt die Blockierung in der Kehle einen Teil der Energie horizontal in die Schultermuskeln ab. Im Rücken wird das Einströmen der Wut in die Arme und in den Kopf etwa auf der Höhe des siebten Halswirbels ebenso blockiert, woraus sich eine Kontraktion der Muskeln des Schultergürtels ergibt. Wenn diese Blockierungen sehr stark sind, führen sie zur passiv-femininen Charakterstruktur.
Der orale Charakter hat Angst vor dem Ausgreifen, der Masochist streckt die Arme aus und zieht sie wieder zurück, der phallisch-narzißtische Charakter packt zu. Dieses Zupacken beruht auf der Angst vor Versagen oder Verlust.
Es bedeutet auch, daß dieser Strukturtypus nicht zu wenig geladen ist wie der orale Charakter, und auch nicht von Schuldgefühlen geplagt ist wie der Masochist. Da die charakterbestimmende Störung relativ spät eintritt, etwa im Alter von drei Jahren, ist der Mechanismus der Abwehr oder Reaktion auf die traumatischen Erlebnisse anders als bei anderen Typen. Sobald die Genitalität erreicht ist, erzeugt Druck in Form von Versagungen oder Strafen eine Versteifung des Organismus. Es ist derselbe Vorgang, den wir bei der hysterischen Charakterstruktur gesehen haben. Die Muskulatur zieht sich zusammen, um die Ich-Struktur zu stützen, und bildet dabei eine Röhre um den Körper.
Die Menschen mit dem, was ich als rigide Struktur kategorisiert habe, besitzen alle diesen röhrenförmigen Panzer, entweder platten- oder maschenartig. Die Tiefe der Panzerung und der Durchmesser der Röhre stehen in umgekehrtem Verhältnis zueinander. Eine weite Röhre ist mit einer oberflächlichen Panzerung verbunden. Eine enge Röhre ist die Folge der Verkrampfung der tieferen Muskelschichten, und sie ist rigider und unflexibler. Die starre, röhrenförmige Struktur lenkt den Energiestrom in das Gehirn und in die Genitalien und überlädt diese Strukturen oft. Zugleich vermindert die Rigidität die psychische und somatische Flexibilität des Organismus.
Es ist auch leicht zu erklären, warum der phallische Mann nach der „Eroberung“ von Frauen strebt. Da die sexuelle Befriedigung unvollständig ist, entsteht ein Gefühl der Unzufriedenheit mit der Sexualpartnerin. Es besteht die bewußte oder unbewußte Hoffnung, eine neue Partnerin würde vielleicht größere Lust verursachen. In der Hitze der durch die Jagd und durch die neue Beziehung hervorgerufenen Erregung geschieht dies auch oft. Aber wenn diese Bedingungen wieder verschwinden, wird die alte Situation wiederhergestellt, die sexuelle Lust nimmt ab, und so wird die Verfolgung wieder aufgenommen. Dieser Vorgang, der auf der genitalen Ebene abläuft, ist typisch oder charakterbedingt. Der phallische Mann findet auf keiner Ebene der Betätigung tiefe Befriedigung, und er ist zu fortwährender Verfolgung und Eroberung gezwungen. Wir müssen diesen Ehrgeiz vom Wachsen und der schöpferischen Tätigkeit des Gesunden unterscheiden.
Das Phänomen der Zwangsvorstellung ist auf Menschen mit rigider Struktur beschränkt. Es wird häufig als Spannung in der Stirn erlebt und stellt dynamisch eine Überladung der Frontallappen des Gehirns dar.
...... Die meisten Phalliker zeigen im Verlauf der Therapie ein Zittern. Man kann es als einen Ausdruck von Angst deuten, aber die einzige wirkliche Erklärung ist bioenergetischer Art. Energie, die in die untere Körperhälfte hinunterströmt, wird entweder genital oder durch die Beine in den Boden abgeführt. Wenn der genitale Ausgang blockiert oder geschlossen ist, haben die Beine eine besonders starke Ladung zu ertragen, die sie nur durch Bewegung abführen können. Dieses Zittern der Beine ist energetisch dem Zittern ähnlich, das bei den Gemütszuständen starker Wut und starker Angst auftritt. In jedem dieser Fälle dient das Zittern zur Entladung von Energie, die nicht durch zielgerichtetes Handeln abgeführt wird, und jedesmal dient das Zittern als Sicherheitsventil.
Moralische Rechtfertigung ist nur beim phallischen Mann oder bei der hysterischen Frau ein Problem.
Die Zwangsvorstellung ist eine Folge der kontinuierlichen Aufladung der Stirnregion, während die Entladung zugleich blockiert oder eingeschränkt ist. Der Patient erlebte die Zwangsvorstellung als Zusammenschnürung oder Spannung in der Stirn. Ähnlich ist die Übererregung der Genitalien eine Folge der Unfähigkeit, die Spannung vollständig abzuführen.
Hier haben wir also einen phallischen männlichen Narzißten mit seiner Überbewertung der sexuellen Potenz, mit seiner Zwangsvorstellung, seiner Schlaflosigkeit und seinen Anfällen von Gallenkrämpfen.
Das Problem der Zwangsvorstellungen hängt eng mit dem weiteren Problem der Zwanghaftigkeit zusammen. Zwanghaftigkeit ist krankhafter als Zwangsvorstellungen, wenn auch weniger störend. Analytische Autoren sehen die Zwanghaftigkeit als Abwehrreaktion gegen Zwangsvorstellungen an. Wir sollten erwarten, daß sie bioenergetisch zusammenhängen. Tatsächlich ist zwanghaftes Verhalten auf psychischer Ebene die extreme Form der Rigidität. Dieselbe übermäßige Rigidität kennzeichnet die somatische Struktur und befähigt uns, die bioenergetische Grundlage solchen Verhaltens zu verstehen.
Der Zwangscharakter hält seine Impulse in einem Maß zurück, das bei keiner anderen Struktur zu finden ist. Er verliert die Haare oben auf dem Kopf wegen der Spannnung und hat unten einen sehr fest verschlossenen After. Er hat extreme Verstopfung und zeigt die typischen Züge der Pedanterie, des Geizes und der Ordnungsliebe, die so gut beschrieben worden sind: „ln der äußeren Erscheinung ist der Zwangscharakter von einer starken Gehaltenheit und Beherrschtheit... was sich in manchen Fällen bis zur kompletten Affektsperre steigern kann.“
Die Verschiebung von der Aggression zum Festhalten veranschaulicht in fortgeschrittenem Stadium die fundamentale Tendenz aller rigiden Strukturen, die Aggression zur Abwehr einzusetzen.
Diese Beschreibungen schildern zwei Extremtypen der Rigidität beim Mann. Der eine neigt zu Zwangsvorstellungen, der andere zu Zwangshandlungen; beim einen ist die genitale Betätigung sehr stark, beim anderen durch schwere anale Verspannungen geschwächt. Diese Art des Zwangscharakters hat wenige Zwangssymptome, da der Zwang alle Handlungen beherrscht.